PEGIDA, die Antwort auf „Brot und Spiele“?

Das, was wir seit Wochen auf den Straßen unserer Städte unter dem Schlagwort „PEGIDA“ erleben müssen ist für viele Menschen in Deutschland beängstigend und bedrohlich. Bei kritischer Reflexion des Geschehens wird schnell deutlich, dass die Pro-PEGIDA-Demonstrationen die Folgewirkung einer verfehlten deutschen Sozial- und Bildungspolitik in den letzten Jahrzehnten ist. Die Begründung dieser Aussage ist vielschichtig, lässt sich aber plastisch an drei Fragestellungen verdeutlichen:

-  Wer nimmt an den PEGIDA-Demonstrationen teil?

-  Weshalb haben die Menschen Angst vor der Islamisierung des Abendlandes?

-  Warum nehmen Bürger an den PEGIDA-Demonstrationen teil?

Betrachtet man die Teilnehmer an den Demonstrationen so wird evident, dass die PEGIDA-Bewegung kein Phänomen des Bildungsbürgertums und der Besserverdienenden, sondern der unteren Einkommensschichten ist. Bei der Massenbewegung handelt es sich folglich um keinen Bevölkerungsquerschnitt, sondern, in der überwiegenden Mehrzahl, um meist „einfache“ Menschen, um Jugendliche ohne Arbeit und ohne Lehrstelle, um Hartz IV – Empfänger, um ältere Menschen mit geringer Rente, also um Staatsbürger, die in den vergangenen Jahrzehnten am wirtschaftlichen Aufschwung in der Bundesrepublik nicht oder nur geringfügig partizipieren konnten.

Für die Majorität der Teilnehmer an den Pro-PEGIDA-Demonstrationen geht es primär um den ausdrücklichen Protest gegen soziale Ungerechtigkeiten und, daraus resultierend, gegen das derzeitige politische Handeln oder Nichthandeln; die Sorge und die Mutlosigkeit vor der Zukunft und fehlende Perspektiven sind für die Menschen zweifellos von größerer Bedeutung als die Angst vor einer „Islamisierung des Abendlandes“. Eine Demonstration gegen Hartz IV, Kinderarmut, Altersarmut, ungerechte Entlohnung, soziale Kälte etc. kann in Deutschland aufgrund wohlerwogener Meinungsbildung die Massen nicht mehr mobilisieren. Ergo wird eine Thematik, die in den letzten Jahren, verstärkt durch den ISIS-Terror, von den Medien als ernste gesellschaftliche Problemlage omnipräsent dargestellt wurde, als Auslöser für die Demonstrationen aufgegriffen. Dass sich rechtes Gedankengut diese inzwischen gewichtige Bühne für eigene Absichten missbraucht ist in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung (leider) nicht zu verhindern.

Betrachtet man die Argumentation der Demonstrationsteilnehmer Pro-PEGIDA (z.B. Islamisierung der Städte durch eigene Stadtviertel und Friedhofsbereiche, vermehrter Moscheen-Bau, Koranunterricht in den Schulen, Migrationsindustrie, Islamisierung der Justiz etc.) so wird sehr schnell deutlich, dass hier eine gewichtige bildungspolitische Thematik von Bedeutsamkeit ist: Kritikfähigkeit, Emanzipation und Verantwortung, also das, was man unter dem Begriff „Mündigkeit“ subsumieren kann. Die am häufigsten von den PEGIDA-Anhängern genannten Argumente sind reproduzierte Aussagen, oftmals substanzlos, äußerst peripher und fehlerhaft, die meist unreflektiert von anderen Demonstrationsteilnehmern oder aus den Medien übernommen wurden. Was fehlt ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt, also das, was die Politiker in enthusiastischen Sonntagsreden einfordern, aber die hierzu erforderlichen Bedingungen nicht schaffen. In der Bundesrepublik Deutschland findet seit Jahren eine latente „flächendeckende Entklugung“ statt. In den Lehranstalten wird eine annähernd ausschließlich „pragmatisch-funktionale Ausbildung“ zum Bestehen in der modernen Industriegesellschaft vermittelt, und die Intention zu einer kritisch-aufklärerischen Erschließung der Wirklichkeit, um junge Menschen, die Zukunft dieses Landes, zu mündigen Persönlichkeiten heranreifen zu lassen, wird als obsolet und irrelevant angesehen.

Der nach außen hin von der Politik geforderte mündige Bürger wird synchron durch fehlende notwendige Maßnahmen im Bildungssystem konterkariert. Das hat natürlich System, da die Politik den status quo aufrechterhalten will, und demzufolge eine kritische und aufgeklärte Gesellschaft nicht erstrebenswert ist. Gewollt ist der Konsument, der den Binnenmarkt stärkt, der Lohnarbeiter, der möglichst lange für einen Minimal-Lohn seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt und der Staatsbürger, der kritiklos die gesellschaftlichen Schieflagen und Ungerechtigkeiten akzeptiert. Wenn Bildung im Sinne von Emanzipation und Chancengleichheit zu teuer wird, dann ist gesellschaftliche Unmündigkeit vorprogrammiert und es wird eine Abhängigkeit kultiviert, die den gesellschaftlichen Mächten mehr oder weniger wehrlos gegenüber steht.

PEGIDA ist das Ergebnis von Unmündigkeit, es ist ein Symptom. Der eigentliche Anlass und der wahre Hintergrund für die Massenkundgebungen sind die vielfältigen sozialen Asymmetrien in unserer Gesellschaft. Panem et circenses (Brot und Spiele) versprachen die römischen Kaiser um das Volk in Passivität zu halten. Auch heute scheint diese Vorgehensweise eine verbreitete politische Strategie zu sein. Konsum und Fun ist die neue Formel, um von den akuten Problemen abzulenken und die Bürger in Ruhe und Lethargie zu halten. Die negative Konsequenz ist gesellschaftliche Unmündigkeit, und wir brauchen in unserer Geschichte nicht lange nachzuforschen, um die negativen Auswüchse einer flächendeckenden Unmündigkeit zu entdecken.


H. T. Thielen (02.01.2015, Teilveröffentlichung in: "Der Spiegel" Nr. 5, 24.01.2015)